(H. R. ENGELMANN 1982)

Was verstehen wir unter WESEN des Hundes?

Wesen ist die Gesamtheit aller angeborenen und erworbenen, körperlichen und seelischen Anlagen, Eigenschaften und Fähigkeiten, die das Verhalten des Hundes zur Umwelt bestimmen, gestalten und regeln.

Diese Formulierung stammt von Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. E. Seiferle und könnte treffender nicht ausgedrückt werden. Es lohnt sich, diese Definition zweimal zu lesen und ausgiebig darüber nachzudenken. Das Wesen beinhaltet also Angeborenes, das sich zum größten Teil auch vererbt und Erworbenes, das sich niemals vererben kann.

Beim Wesenstest geht es also darum, die angeborenen Anlagen, Fähigkeiten und Eigenschaften möglichst klar herauszuschälen und somit die Grundlage zur Entscheidung zu schaffen, ob ein Hund zur Zucht zugelassen werden kann oder nicht. Der Wesensrichter muss sich demzufolge am Schluss der Prüfung völlig im Klaren sein, ob der gerade getestete Hund die Zucht verbessern könnte oder nicht. Stellt der Beurteiler ausgeprägt vorhandene Unsicherheit, Ängstlichkeit, Schreckhaftigkeit, Scheuheit, unerwünschte Schärfe, Nervosität oder auch Schussscheuheit fest, kann ein solcher Hund zur Zucht nicht zugelassen werden, weil sich diese Eigenschaften resp. Anlagen nachweislich vererben können.
Die Beurteilung eines Hundes ist nicht so einfach, wie es manchmal den Anschein macht, zeigt doch der Hund nie (übrigens der Mensch auch nicht!) eine Eigenschaft oder eine Anlage allein. Es sind dies deren mehrere, die gleichzeitig, ja parallel funktionieren, wobei in jeder Situation die Kombination von Wesenseigenschaften sehr stark variieren können.

Dazu zwei Beispiele:

1.

Ein Junghund bewegt sich mit seinem Besitzer und Führer inmitten einer lockeren Menschenansammlung. Dabei können praktisch gleichzeitig Spieltrieb, Temperament, Wesenssicherheit, Aufmerksamkeit, Bindung an den Führer, Bewegungstrieb und Führigkeit, aber unter Umständen auch Unsicherheit, Ängstlichkeit, Nervosität oder Unterwürfigkeit festgestellt werden.

2.

Der Hund wird gleichzeitig optischen und akustischen Einflüssen ausgesetzt, z.B. an einem Wesenstest. Dabei zeigen sich Temperament, Wesenssicherheit, Unerschrockenheit, Aufmerksamkeit, Bewegungstrieb, Bindung an den Führer, evtl. aber auch Unsicherheit, Nervosität, Ängstlichkeit oder Scheuheit.

Es ist nun die Aufgabe eines jeden Wesensrichters, am Schluss der Prüfung die Triebe und Wesenseigenschaften quasi zu isolieren und dem Hundebesitzer mitzuteilen und wenn nötig, auch zu begründen, warum der Hund bestanden hat oder zur Zucht nicht zugelassen werden kann.
Nur der wesenssichere Hund gibt dem Züchter die Gewähr auf eben solche Nachkommenschaft. Wie die Erbgänge wirklich verlaufen, darüber streiten sich zum Teil noch immer die Gelehrten. Über 20 Jahre Erfahrung als Wesensrichter haben immer wieder deutlich gezeigt, dass, wenn immer mit scheuen, ängstlichen oder sehr unsicheren Hunden gezüchtet wird, die unerwünschten Eigenschaften erneut „durchdrücken“. Dies kann sich direkt in der folgenden Generation auswirken oder es können auch 1 - 2 Generationen übersprungen werden.

Was wird an einem Wesenstest (nach Schweizer Muster) verlangt, resp. vom Hund gefordert? Dies ist auf einen sehr einfachen Nenner zu bringen:
Der Hund soll sich in allen friedlichen Alltagssituationen sicher und unerschrocken verhalten. In der heutigen Zeit ist dies eine unüberhörbare Forderung für die Zucht der einzelnen Rassen, um deren Nachachtung und Einhaltung jeder Klub besorgt sein soll und muss. Auch vom tierschützerischen Standpunkt aus gesehen, bedeutet für einen ängstlichen Hund das Leben in der heutigen Umwelt eine Qual.

Die oft gestellte Frage „Wie muss ich meinen Hund für den Wesenstest vorbereiten?“ möchte ich kurz beleuchten.
Die erste große Verantwortung hat der Züchter. In seiner Hand liegt es, die seiner Meinung nach besten Paare zusammenzubringen und die Welpen in einer normalen Familienatmosphäre aufzuziehen. Nebst Fütterung und geeigneter Unterkunft sollen die Welpen ab 3. Woche möglichst häufigen Kontakt mit Züchter, Freunden und Bekannten und den verschiedensten Umweltereignissen haben.
Nehmen wir als Vergleich beispielsweise ein Kleinkind, das praktisch ohne Umwelterlebnisse aufgezogen wurde, so ist es leicht festzustellen, dass es sich später nur außerordentlich schwer zurechtfindet. Dasselbe gilt für den Hund. Also ist es die Pflicht eines jeden Züchters und Junghundbesitzers, den Welpen, resp. Junghund diesen Umwelteinflüssen und -erlebnissen allmählich auszusetzen. Gewöhnen Sie doch Ihren 2 - 6-monatigen Junghund sukzessive an unsere Umwelt, dann haben Sie ihn für den kommenden Wesenstest bestens vorbereitet. Viele Hundehalter machen dies ohne großes „Drum und Dran“ automatisch richtig, während ein nicht geringer Teil große Schwierigkeiten in der Hundeerziehung bekundet und dadurch dem Hund die Möglichkeit nimmt, durch sinnvolles Zusammenleben, seine erwünschte Veranlagung zu fördern.
Es sei nochmals betont, geben Sie Ihrem Hund jeden Tag Gelegenheit, sich an unsere „Gesellschaft“ zu gewöhnen. Anders gesagt, Sie als Hundehalter haben es in der Hand die gewünschten Anlagen zu fördern und die unerwünschten erst gar nicht aufkommen zu lassen. Es liegt an Ihnen, den Hund im Jugendalter zu steuern.
Der Wesenstest sollte unbedingt zwischen 6 und 12 Monaten durchgeführt werden (am besten wäre ein Hundealter von 6 - 9 Monaten). Je älter der Hund wird, desto mehr wird er von der Umwelt geprägt und desto mehr sind seine angeborenen Anlagen - nur auf diese kommt es an - maskiert oder verdeckt. Dies macht es dann einem Wesensrichter sehr schwer, wenn nicht fast unmöglich, das wirkliche Erbgut herauszuschälen.