Eindrücke aus Çanakkale
Vor einigen Jahren trat der 1. Vorsitzende von Vehist mit Bitte um Hilfe für die Straßentiere in der Türkei an mich heran. Er besitzt dort eine Ferienwohnung und versuchte schon seit Jahren, die Not der Tiere in den Straßen zu lindern, indem er sie fütterte und versuchte, seine Nachbarn davon zu überzeugen dieses auch zu tun, zumindest aber die Tiere nicht davon zu jagen oder sie zu quälen.
Tiere haben für viele Menschen in der Türkei keinen Wert; auch nach Erlass eines Tierschutzgesetzes im Jahr 2004 hat sich an der Einstellung zu Tieren kaum etwas geändert. Seit 1999 gibt es in Çanakalle immerhin ein Tierheim.
Durch Anzeigen in veterinärmedizinischen Zeitschriften fanden sich Kollegen, die dem für das Tierheim zuständigen Tierarzt bei der Kastration von Katzen und Hunden halfen. Die Hunde wurden anschließend mit einer deutlich sichtbaren Ohrmarke gekennzeichnet und an denselben Orten wieder ausgesetzt.
Schutz der Straßentiere ist hier – wie praktisch überall – ein Fass ohne Boden; immer bleiben einige unkastrierte Tiere übrig oder es werden neue ausgesetzt, die sich dann wieder vermehren. Selbst wenn die meisten Welpen verhungern oder an Seuchen eingehen, überlebt immer der eine oder andere, der versuchen muss, sein Leben in den Straßen zu retten.
In diesem Jahr wollte ich mir selber ein Bild verschaffen und auch das Tierheim ansehen. Ich hatte gehofft, mit dem Tierarzt, der auch Mitglied des dortigen Tierschutzvereines ist, ausführlich sprechen zu können und Genaueres über das Konzept für den Tierschutz, speziell für das Tierheim zu erfahren. Dieses war leider nur sehr beschränkt möglich. Bei unserem ersten Besuch trafen wir niemanden im Tierheim an. Nur von außen hatten wir Einblick in die verschiedenen Gehege. Im ersten befanden sich mehrere junge Hunde, mindestens einer davon ganz offensichtlich erkrankt, den äußeren Symptomen nach zu urteilen vermutlich an Staupe.
Als wir gerade abfuhren, fuhr ein Auto vor. Zwei Erwachsene und ein Kind stiegen aus. Wir erfuhren, dass sie aus dem Nachbardorf kamen und einen Hund für das Kind suchten. Die Frage, warum sie keinen der freilaufenden Hunden aus dem eigenen Dorf nähmen, wurde damit beantwortet, dass es sich dabei ja um Straßentiere handele. Verschlossen fanden wir das Tierheim öfter vor. Auch der Nachtwächter war abends nicht anwesend. Durch einen Anruf bei ihm Zuhause erfuhren wir, dass dieser gerade schlafe (eine Stunde nach seinem Dienstbeginn).
Durch einen Anruf beim Tierarzt erfuhren wir, dass er wegen der Feiertage neun Tage nicht im Tierheim sein werde, im Notfall aber käme. Wir suchten den Tierarzt dann in seiner Praxis auf. Trotz der Feiertage arbeitete er dort voll und verrichtete auch Routinearbeiten wie z. B. Kürzen der Krallen, Scheren eines Hundes oder verkaufte Futter und Zubehör für Tiere.
Rassehunde haben in der Türkei durchaus Eingang gefunden haben dort teilweise Statussymbol. In der Praxis sahen wir sofort zwei Golden Retriever – einer davon völlig verfettet – und einen braunen Labrador Retriever, ebenfalls zu fett. Diese stellten einen krassen Kontrast zu den klapperdürren Tieren in den Straßen dar.
Der Tierarzt konnte oder wollte sich mit mir nicht unterhalten; er liest zwar englische Fachliteratur, war aber nicht in der Lage, sich auf Englisch zu unterhalten. So war ich auf Übersetzung angewiesen und erfuhr mit einigen Unterbrechungen ein wenig über das Tierheim.
Der Tierarzt sagte, dass es keinen festgelegten Vertrag mit der Stadt gebe, sein Gehalt aber sehr klein sei. In der Regel sei er jeden Tag im Tierheim; er wollte sich stundenmäßig aber nicht festlegen. Bei der Stadt angestellte Personen wechseln sich mit den anfallenden Arbeiten im Tierheim ab. Zusätzlich gibt es seit einiger Zeit einen Nachtwächter.
Das Tierheim habe eine Kapazität von 200 bis maximal 250 Hunden. Die Hunde werden gegebenenfalls schon mit drei Monaten kastriert.
(Wenn ich auch aus ethischen Gründen ein Gegner der Frühkastration bin, erlaube ich mir in dieser Situation darüber kein Urteil. In erster Linie ist es wichtig, eine Vermehrung der Tiere zu verhindern, um weiteres Leid zu vermeiden).
In der Quarantänestation blieben die Tiere 7-10 Tage (wegen der oft längeren Inkubationszeit ist das M. E. viel zu kurz). Angeblich werden sie auch entwurmt (mit Ivermectin) und gegen die gängigen Seuchen und auch gegen Tollwut geimpft. Täglich würden etwa zwanzig Tiere an neue Besitzer vermittelt, die dafür nichts bezahlen müssen. Täglich kämen ca. vierzig bis fünfzig Tiere neu hinzu. (Anmerkung: beide Zahlen erscheinen mir viel zu hoch). Die Sterblichkeitsrate unter den Welpen ist auch im Tierheim sehr hoch, fast alle sterben, die erwachsenen Tiere überleben in aller Regel.
Anschließend besuchten wir ein weiteres Mal das Tierheim, da dort gerade ein Angestellter der Stadt anwesend war. Dieser war neu und kannte sich noch nicht so gut aus, war aber sehr freundlich. Er zeigte uns die Quarantänestation im Haus, elf geflieste Räume mit einem Liegebrett und einem Durchschlupf nach draußen zu einem ebenfalls gefliesten Auslauf. Wir sahen gleich zwei Würfe, einer davon noch mit Saugwelpen, der andere Wurf war älter. Diese Welpen hatten flüssigen Durchfall.
Bei der Besichtigung der Außengehege fiel sofort auf, dass die sogenannte Quarantänestation direkten Anschluss an diese hatte. Über einer niedrigen Mauer befand sich lediglich ein Maschendraht, sodass die Tiere direkten Kontakt zueinander haben konnten.
Die Hunde werden zu einem Teil mit Essensresten von Hotels ernährt. Der Blick in die Futterküche entsetzte mich. In einer offenen (vermutlich ausrangierten Kühltruhe) lagerte Brot, das zu einem Großteil völlig verschimmelt war.
Die Hunde waren fast alle freundlich und froh, menschlichen Kontakt zu haben. Manche hatten starken Haarausfall und litten unter starkem Juckreiz, der den Verdacht auf Ektoparasitenbefall nahe legte. Auffallend war, dass nur sehr wenige Hunde eine Ohrmarke, als Hinweis darauf, dass sie kastriert waren, trugen. Die Rüden, die ich sah, waren unkastriert. Der kranke Welpe vom Vortag war nirgendwo zu entdecken.
Als wir gingen, entdeckten wir in der hintersten Ecke zwei Welpen; der eine war tot, der andere schrie erbärmlich und lag im Sterben. Sein Schreien hatte uns aufmerksam gemacht. Wir riefen sofort den Tierarzt, er konnte / wollte nicht kommen (sein Wartezimmer war ja auch voll gewesen mit Tieren, denen es gut ging). Wir ließen uns den Welpen aushändigen. Er war völlig unterkühlt, abgemagert und ausgetrocknet, mit Flöhen und Flohkot übersät. Wir brachten ihn zum Tierarzt, der ihn dann endlich erlöste. Wir erfuhren von ihm, dass dieses der letzte aus einem Wurf mit sechs Welpen war.
Ich hatte auch die Gelegenheit mit Sitare, der ersten Vorsitzenden des Tierschutzvereines von Çanakkale mit ca. 30 Mitgliedern und mit Riza, der diese Funktion früher innehatte, zu reden. Riza wohnt jetzt auf der Insel Bozcaada und hat dort einen weiteren Tierschutzverein gegründet, der ca. 72 Mitglieder – überwiegend aus Istanbul – hat. Im April 2009 will er dort eine große Kastrationskampagne starten. Auf der Insel sind überwiegend Katzen ein Problem, die von den dortigen Restaurantbesitzern nicht toleriert werden. Das Tierheim in Çanakkale soll nach seinen Angaben in den ersten Jahren das am besten geführte gewesen sein. Heute scheint es nur eine Alibifunktion für die Stadtverwaltung zu haben. Das Gehalt des Tierarztes liege unter dem der dort beschäftigten Arbeiter (870 Lira / Monat). Einen verpflichtenden Vertrag für den Tierarzt scheint es tatsächlich nicht zu geben. Der Tierarzt selber scheint das Interesse am Tierheim völlig verloren zu haben.
Sitare ist in dem Tierschutzverein mehr oder weniger allein und hat keinen Einfluss auf die Stadtverwaltung. Auch scheinen die Meinungen über die Vorgehensweise mit öffentlichen Stellen weit auseinander zu gehen. Riza versucht durch diplomatische Zusammenarbeit mit der Stadt in kleinsten Schritten u. U. etwas zu erreichen, während Sitare dieses wohl eher aufgegeben zu haben scheint. Sie versucht durch Anzeigen und Briefe an den Bürgermeister mit Hinweisen auf den § 5199 des Tierschutzgesetzes (Pflicht der Gemeinde sich um Straßentiere zu kümmern) etwas zu erreichen. Sie zeigt auch an, wenn Tiere vergiftet werden. Trotz des Gesetzes geschieht dieses auch heute noch in manchen Orten durch städtische Arbeiter. Am 4. Oktober, dem Welttiertag versuchte sie an einem Infostand in Zentrum von Çanakkale die Bevölkerung aufzuklären.
Sicherlich kam erschwerend für unserem Besuch hinzu, dass sich nach Beendigung des Fastenmonats Ramasan gleich neun Feiertage anschlossen. Alles im allem waren die Eindrücke aus Çanakkale nicht unbedingt ermutigend. Für das Tierheim gibt es keinen Leiter und es fehlt ein Konzept. Es mangelt auch an der nötigen Hygiene und natürlich an Geld. Vehist ist ein sehr kleiner Verein mit nur wenigen Mitgliedern. Das Konzept von Vehist sieht vor (im Unterschied zu anderen Organisationen), die Tiere im Land zu lassen, um dort vor Ort die Verhältnisse zu ändern. Durch die Änderung der Satzung, die Vehist zu einem gemeinnützigen Verein macht, ist auf einen ständigen Zuwachs von Mitgliedern zu hoffen. Osnabrück als Partnerstadt von Çanakkale kann in Zukunft möglicherweise behilflich sein.
Meine Vision ist es, dass es irgendwann auch in der Türkei Hundevereine geben möge, die insbesondere den Kindern und Jugendlichen, die auch dort scheinbar ein Interesse an den Tieren haben, bei der Erziehung und der Arbeit mit ihnen helfen, so dass sich nach und nach die Einstellung zu den Tieren ändern könnte.
Weitere Infos unter www.vehist.de
Dr. Helena Niehof-Oellers, Oktober 2008